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Lesung mit Undine Zimmer

Wenn der Mangel Alltag ist - Undine Zimmer las aus ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“
26. Februar 2014, Vesperkirche Stuttgart

„Einige Male haben uns Freunde abends mit ihrem Auto nach Hause gefahren. Solange ich im Auto mit einer Familie saß, war ich plötzlich Teil von etwas, das mir eigentlich fremd war. Etwas, das ich vermisst habe. - „Opern und Tiefkühlpizza – So kann ein Freitagabend aussehen.“ - „Ich dachte immer, Erfolg hat etwas mit Talent zu tun und man müsse warten, bis man entdeckt und gefördert wird.“

Es sind solche Sätze, die nach der Lesung mit Undine Zimmer in der Vesperkirche hängenbleiben. Zimmer beschreibt in ihrem Buch anschaulich, wie schwierig das Leben in einer Familie ist, die von Soziahilfe abhängt. Wer arm ist, für den ist der Mangel Alltag: Es fehlt Geld für ein Faschingskostüm. Für die Nachhilfe. Für das Museum. Oder auch nur für einen Kaffee. „Es ist ein Unterschied, ob man sich aus verschiedenen Gründen dafür entscheidet, gewisse Dinge nicht zu kaufen, wenn man weiß, man könnte es, oder etwas nicht kauft, weil man es nicht kann“, so das Fazit der Autorin.

Eine Gegenwelt erfährt Zimmer in Schweden. Mit 16 erhält sie die Möglichkeit, dorthin zu gehen. Die Bedingungen sind so gut, dass sie einen Motivationsschub bekommt: „Ich hatte in Schwedisch bessere Noten als in Deutschland, trotzdem Schwedisch nicht meine Muttersprache ist, ich bekam einen ungeahnten Ehrgeiz für vorher verhasste Fächer.“ In Schweden fühlt sie sich als Teil der Gesellschaft. Sie lernt Dinge kennen, die es für sie in Deutschland nicht gibt: Regelmäßiges Schulessen. Freikarten für Konzerte. Freier Eintritt ins Schwimmbad. Eine Bibliothek mit einem Cafe, in dem Kuchen und heiße Schokolade erschwinglich sind.

Nach dem Abitur studierte Zimmer und arbeitete bei der Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Ihr Buch „Nicht von schlechten Eltern – Meine Hartz-IV-Familie“ beschreibt ihre Kindheit und Jugend im Westberlin der 1980er und 90er Jahre.

Dass die Situation heute kaum besser ist, zeigte die Diskussion mit Jugendlichen, die sich der Lesung anschloss. „In der Schule sind alle Gymnasiasten, da merkt man es nicht so. Aber wenn man durch die Stadt läuft nimmt man wahr, dass es zwei Schichten gibt“, so Katharina Zürn vom Fanny Leicht-Gymnasium. Daniel Flores-Barejao, der bei der Neuen Arbeit an einem Jugendberufshilfe-Projekt teilnimmt, vermisst Unterstützung: „Kein Mensch hat mir geholfen, als ich es am nötigsten gebraucht hätte. Das muss man als 15-jähriger erst einmal verkraften.“ Marcel Schliebs vom Karlsgymnasium meint, im Schulsystem werde zu früh getrennt: „Die Zukunft bestimmt sich schon in der vierten Klasse.“ Außerdem kämen soziale Themen zu kurz: „Die Schule ist eher auf wirtschaftlichen Fortschritt und naturwissenschaftliche Fächer ausgelegt.“

Begleitet wurde die Lesung, die von der Vesperkirche und der Denkfabrik im Sozialunternehmen Neue Arbeit veranstaltet wurde, vom Freestyle-Rapper Tobias Borke. Er rief dazu auf, miteinander ins Gespräch zu kommen. Am Ende forderte Zimmer, die üblichen Denkkategorien zu überwinden. „Anstatt zu sagen, der ist im Gymnasium und der ist bei der Neuen Arbeit, könnte man auch fragen, wer am meisten Sprachen fließend spricht.“ Das seien oft Kinder aus Migrantenfamilien. „Die unterschwelligen Vorurteile sind so im Denken drin. Das muss man hinterfragen.“