Gehört diakonisch aktiven Gemeinden die Zukunft?
„Da passe ich nicht rein“ - Wie können Menschen in prekären Verhältnissen und Kirchengemeinden zusammenkommen?
2. November 2016, Gemeindehaus Johanneshof, Stuttgart-Zuffenhausen
„Gehört diakonisch aktiven Gemeinden die Zukunft?“ fragten Denkfabrik der Neuen Arbeit und Evangelisches Dekanatamt Zuffenhausen in einer Veranstaltung. Dabei waren Wissenschaftler, Synodale, Gemeindepfarrer und Menschen in prekären Lebenslagen.
Zu Beginn stellte Prof. Heinzpeter Hempelmann Ergebnisse aus der Studie „Kirche im Milieu“ vor. Die Studie teilt die Gesellschaft in 10 Milieus ein. Die Kirche wird von drei Milieus bestimmt, die dort auch überdurchschnittlich vertreten sind. Das prekäre Milieu dagegen ist in der Kirche unterrepräsentiert. Es ist in den evangelischen Kirchen Baden-Württembergs nur mit einem Prozent vertreten, in der Gesamtbevölkerung sind es neun Prozent.
Im zweiten Schritt charakterisierte Hempelmann das prekäre Milieu. Die Menschen dort verdienen unterdurchschnittlich, haben meist niedrige Berufsabschlüsse und wenig Aufstiegschancen. Gleichzeitig sind sie leistungsorientiert, sehen sich selbst als durchsetzungsfähig an und suchen Anschluss an die bürgerliche Mittelschicht und deren Konsumwelten. Die eigene Situation und das eigene Selbstbild passen nicht zusammen, deshalb fühlen sie sich ausgeschlossen. Das führt oft zu Ressentiments gegen „die da oben“ oder „die da unten“ oder zum Rückzug in die Isolation. Wichtig sind den Menschen aus dem prekären Milieu die eigene Familie und der Freundeskreis, dort finden sie Geborgenheit. Nach außen hin sind sie körperbetont: Schmuck, Tattoos, Kleidung oder Sexualität spielen eine große Rolle.
„Prekäre verkörpern vielfach das, was ein Christ nicht sein soll“
Gerade der letzte Punkt verhindert oft Kontakt oder die Einbindung in die Gemeinden. Die tonangebenden Milieus in der Kirche sehen bei den Prekären mangelnde Konsumkritik, zu wenig Reflexion („Stammtisch“), die Abwehr des Fremden und falsche kulturelle Interessen („Schlager“). Hempelmann spricht hier von „Ekelschranken“. Kurz: „Für postmateriell geprägte Christen verkörpern Prekäre vielfach all das, was man als Christ nicht sein kann und nicht sein soll.“ Die Prekären dagegen fühlen sich ausgeschlossen: „Da passe ich nicht rein.“ Auch diakonische Angebote kommen oft nicht gut an, da sie im Widerspruch dazu stehen „es selbst zu schaffen“.
Hempelmann empfiehlt, an die Werte des prekären Mileues anzuknüpfen. So übernähmen diese Menschen gerne praktische, handwerkliche und physische Aufgaben. Außerdem sei es wichtig die Menschen aufzusuchen, notwendig sei eine „Geh-Struktur“.
Im weiteren Verlauf berichteten Jan Frier und Berthold Gohs von ihren Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit. „Krankheit wird eher wahrgenommen als Arbeitslosigkeit“, so Frier. „Es macht einen ratlos und man denkt: Das muss doch an mir liegen“, meinte Gohs. Die Bemühungen der Kirche, Langzeitarbeitslose zu unterstützen, sehen sie positiv. Beide sind in den Genuss des Beschäftigungsgutscheins von Diakonie und Kirche gekommen. Allerdings sei Augenhöhe wichtig. Gohs berichtete von einem Essen für Bedürftige, bei dem er wie ein „Staatsgast“ bedient wurde. „Da habe ich mich grausam unwohl gefühlt.“
„Anerkennung ist ungeheuer wichtig“
Auch für Hempelmann ist es wichtig, dass die Distanz nicht auch noch betont wird: „Das wäre so eine Art Testfrage: Kann ich den anderen lassen wie er ist und will ihn so unterstützten? Oder gebe ich ihm doch immer wieder den Eindruck: da müsste sich bei Dir sehr viel ändern, bevor Du ein ordentlicher Mensch geworden bist.“ Das wichtigste sei, anderen mit echter Wertschätzung zu begegnen. Man solle, „beim anderen das entdecken, was ich vielleicht selber nicht so gut kann. Ihm mit Überzeugung das Gefühl geben: darin bist Du gut, darin bis Du wahrscheinlich sogar besser als ich. Anerkennung ist ungeheuer wichtig.“
Die Vertreter der Kirche sprachen sich dafür aus, Diakonie wieder mehr mit dem Gemeindeleben zu verknüpfen. Es dürfe aber keine Taktik sein, um den Bedeutungsverlust der Kirchen zu kompensieren, so Dekan Klaus Käpplinger. „Ohne Spiritualität geht nichts. Das Engagement muss von innen kommen.“